Wir können uns dieses Geschäftsmodell nicht mehr leisten.
Kaum ein Tag ist in der letzten Woche vergangen ohne Nachrichten über Shein. Der Ultra-Fast-Fashion-Gigant liefert jede Menge Billigstprodukte nach Europa. Global 2000 und die AK Oberösterreich testeten – und fanden eine bis zu 4000-fache (in Worten: VIERTAUSEND-fache!) Überschreitung der EU-Grenzwerte von Ewigkeitschemikalien. In Paris eröffnete Shein eine große Filiale, offiziell die erste in Europa – ich war allerdings im Sommer bereits in einem lieblos eingerichteten Pop-up-Store des Unternehmens in Slowenien.
Nicht nur die Shoperöffnung selbst war von Protesten begleitet, schon zuvor ging ein Aufschrei durch Frankreich (und Europa): Shein verkaufte auf seiner Plattform Kindersexpuppen. Und falls wer meinte, dass das ja nur lebensechte Kinderpuppen seien, der hatte die Beschreibung auf der Website nicht gelesen: Da stand was von „erotischen Körpern“ und „lebensechten Genitalien“. Shein stoppte den Verkauf und erklärte, dass das passiert sei, weil sie eine Plattform seien, auf der andere Produzent:innen ihre Produkte verkaufen können, und die Puppen seien ihnen – oh je – durchgerutscht.
Shein und auch Temu, der zweite chinesische Ultra-Fast-Schwachsinnsprodukte-Gigant, verfolgen ein System, das auf der Ausbeutung anderer beruht. Und sie sind bereits ein ernstzunehmendes Problem, in Europa und der Welt.
Shein ist einer der Haupttreiber der textilen Müllberge
Shein hat seinen globalen Umsatz 2023 gegenüber dem Vorjahr erneut kräftig gesteigert, Schätzungen sprechen von zweistelligen Wachstumsraten. Gleichzeitig explodiert die Menge an weggeworfener Kleidung in Europa. Laut EU entstehen jährlich rund 5,8 Millionen Tonnen Alttextilien, Tendenz stark steigend – und Fast Fashion ist einer der Haupttreiber. Immer öfter stolpere ich bei Volkshilfe oder Caritas über gespendete Kleidung von Shein – und es sind immer die mit Abstand am schlechtesten verarbeiteten Stücke. Mäntel ohne Futter, knisternde und durch die statische Aufladung am Körper klebende Röcke aus billigstem Polyester oder Leggings, die transparenter kaum sein könnten, sind völlig normale Shein-Produkte.
Zölle vs. schlechte Qualität
Nun zu den Marktbewegungen: In den USA wird aus dem „Billig-Paradies“ langsam ein ungemütlicher Ort für Temu und Shein. „Dank“ Trump gibt es dort schmerzhaft hohe Zölle, die direkt auf die Verkaufspreise umgelegt werden. Und kaum ist etwas nicht mehr nachgeschmissen günstig, merkt man halt schon, dass die Qualität der Shein-Produkte einfach lächerlich schlecht ist. So einen Shein-Fetzen kauft man sich aus Jux und Tollerei, weil man grad ein bissl Geld übrighat, aber sicher nicht, weil man einen warmen Wintermantel braucht, beispielsweise. Ein Musterbeispiel, welchen Einfluss der Preis auf die Kaufentscheidung hat. Erst, wenn‘s ein bissl teurer ist, achtet man auf die Qualität, bei billigbilligbillig wird der Verstand einfach ausgeschaltet. Und genau das ist das Konzept von Shein.
Der US-Markt wird also weniger profitabel. Und was macht man dann als globaler Billighändler? Genau: Europa in den Fokus nehmen. Hier, wo – im Gegensatz zu den USA – der Zoll bis heuer Kleinsendungen unter 150 Euro praktisch unkontrolliert durchgewinkt hat. Das macht den europäischen Markt extrem attraktiv. Gleichzeitig pumpt Shein Millionen in Werbung; allein 2023 stiegen die Werbeausgaben in Europa um geschätzt 30 bis 40 Prozent. Und das wirkt: Die europäischen Umsätze sollen in den letzten Jahren teils um über 100 Prozent zugelegt haben. Im letzten Jahr sind 12 Millionen Pakete in EU-Länder verschickt worden – das ist ein massiver Anstieg zu den Vorjahren, der sehr wahrscheinlich mit Shein und Temu erklärbar ist.
Nur: Dieses „Wachstum“ hat einen Preis.
Polyester braucht Erdöl, die Produktion ist energieintensiv, und die Kleidungsstücke zerfallen zu hochgefährlichem Mikroplastik. Die Kleidung ist nicht recycelbar. Man kann es also nur exportieren, verbrennen oder deponieren, legal oder illegal. Gemessen an der Tatsache, dass wir genug Kleidung auf diesem Planeten haben, um die nächsten sechs Generationen einzukleiden … „schwierig“ ist dafür noch ein Hilfsausdruck.
Investigative Recherchen haben wiederholt dokumentiert, dass Shein-Produkte unter Bedingungen entstehen, die weit unter internationalen Standards liegen: 12- bis 18-Stunden-Schichten, Überstunden ohne Bezahlung, fehlende Arbeitssicherheit. In einer BBC-Doku im Sommer sah ich Bilder aus Fabriken, in denen Näher:innen bis zu 500 Stück pro Tag fertigen müssen – ohne massiven Druck ein unmöglich zu schaffendes Pensum.
Unser Wohlstand steht auf dem Spiel
Was aber oft übersehen wird: Shein (und Temu) zerstört nicht nur Arbeit und Menschenleben, sondern auch die europäische Wirtschaft.
Europäische Textilunternehmen unterliegen strengeren Umwelt-, Arbeits- und Sicherheitsstandards. Sie können ein T-Shirt nicht für 3,49 Euro produzieren, ohne gegen Gesetze zu verstoßen. Importiert man sie im derzeit noch zollfreien Paket aus China, ist das de facto geschäftsschädigend – von wegen „freier Markt“. Wenn es so unfaire Voraussetzungen gibt, darf das nicht mit „die Kund:innen entscheiden eben“ argumentiert werden. Es ist zwar gut, dass die Zollfreigrenze der EU fällt, das ist ein erheblicher Dämpfer für die Verkäufe von Shein und Temu in Europa, aber es ist noch lange nicht genug.
Ich stehe inzwischen auf dem Standpunkt, dass diese Unternehmen ersatzlos verboten gehören. Es kann doch bitte nicht sein, dass wir hierzulande über hunderte Jahre für Arbeits- und Umweltrechte kämpfen und das Ganze den Bach runtergeht, weil wir plötzlich Billigstware aus China direkt bestellen können (und unser kollektiver Wohlstand wird da auch gleich mit weggeschwemmt, wenn auch noch die letzten Arbeitsplätze in der produzierenden Industrie draufgehen).
Wie die EU Shein und Temu regulieren könnte
Es gibt Wege, Shein zu verbieten. Und es ist höchste Zeit, dass das endlich passiert. Auf Grundlage des Digital Services Act (DSA) kann man „Very Large Online Platforms“ bei schwerwiegenden, wiederholten Verstößen, die zu ernsten gesellschaftlichen Risiken führen (z. B. in den Bereichen Kinder- und Jugendschutz, Produktsicherheit usw.), zeitweilig beschränken oder aussetzen. Es braucht noch einiges an öffentlichem Druck, um die Kommission zu überzeugen, aber über diesen Weg könnte man Sheins und Temus Websites und Apps europaweit blockieren.
Auch möglich (und eigentlich überfällig) wäre es, die importierten Produkte nach der REACH-Chemikalienrichtlinie der EU zu überprüfen und zu blockieren. Ich bin mir sehr sicher, dass mehr als die Hälfte aller Produkte so nicht in den EU-Raum kommen würde. Plus: Man könnte diese beiden Plattformen als „Hochrisiko“ klassifizieren; das würde bedingen, dass strengste Zollkontrollen gelten.
Eine gute Freundin brachte es mal auf den Punkt: „Was bei uns nicht produziert werden kann, weil Umwelt- oder Menschenrechtsstandards dagegensprechen, sollte auch nicht importiert werden dürfen.“
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
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